Wie reiche und arme Welten aufeinanderprallen und wie verflochten sie bereits sind, wurde Chris Brazier beim Abschied aus Sabtenga klar.
Mariama arbeitet noch immer als Assistentin im Gesundheitszentrum, mittlerweile seit 25 Jahren, und Ousmane, mit dem ich auch befreundet bin, ist ebenfalls noch immer in der Apotheke der Klinik beschäftigt. Beide beklagen sich mit einiger Bitterkeit (und zu Recht) über das wenige Geld, das sie für diese Vollzeitarbeit bekommen – Mariama verdient umgerechnet 15 US-Dollar monatlich, Ousmane 22 Dollar, Beträge, die seit 15 Jahren nicht einmal an die Inflation angepasst wurden.
Die prekäre materielle Lage im Dorf war ein Thema, das mir bei allen meinen Besuchen zu schaffen machte. Natürlich wird es den Menschen jedes Mal schmerzhaft bewusst, dass ein Besucher aus dem Westen über Geldmittel verfügt, die ausreichen würden, um ihre Lebensumstände erheblich zu verbessern. Ich hatte jedoch vor langer Zeit beschlossen, ob zu Recht oder zu Unrecht, mich als Journalisten zu betrachten, der aus solidarischer Perspektive über die Veränderungen im Leben der Menschen berichtet und bloß für alles mehr bezahlt als das Übliche, jedoch nicht als Person, die versucht, durch Wohltätigkeit Veränderungen zu bewirken. Dieses Selbstverständnis legte ich mir aus Gründen der Selbstverteidigung bei meiner ersten Rückkehr zu, als ich auf Tuchfühlung mit der Gemeinschaft lebte und ständig um Geld für alles Mögliche gebeten wurde, von der Reparatur eines Fahrrads bis zum Startkapital für ein kleines Unternehmen.
Dieses Mal bezahle ich Ousmane für seine Hilfe als Führer und Übersetzer, zusätzlich zu dem ansehnlichen Betrag, den sich Mariama mittlerweile aus Gewohnheit erwartete, obwohl sie weniger Zeit für meine Betreuung aufwenden musste als bei meinen früheren Besuchen. Emotional stand ich in erster Linie Mariama und ihrer Familie nahe. Über die Jahre legte ich meinen sporadischen Briefen stets Euroscheine bei, und als ihr Haus 2008 bei einem Unwetter zerstört wurde, half ihr meine Familie, damit sie sich den Wiederaufbau leisten konnte.
Rasinatu beklagt sich. In den ersten Tagen unseres Aufenthalts – bei dieser Reise werde ich von meiner Partnerin Pat begleitet, vor elf Jahren war es meine Tochter Kate – besucht uns Mariamas Tochter Rasinatu. Ich freue mich sehr, sie wiederzusehen. 1995 war sie das verhätschelte und ziemlich anspruchsvolle Nesthäkchen der Familie, 2005 besuchte sie die Schule im Dorf. Nun ist sie verheiratet und hat ihr eigenes einjähriges Kind mit dabei. Als wir darüber reden, was sich in ihrem Leben in den letzten zehn Jahren verändert hat, spricht sie überraschend ein düsteres Thema an: Sie beklagt sich darüber, dass ihre Familie sie nicht ausreichend finanziell unterstützt habe und nicht bereit gewesen sei, ihr den weiteren Schulbesuch zu ermöglichen.
Rasinatu fühlte sich daher gezwungen, den von der Tradition vorgezeichneten Weg einzuschlagen – sie heiratete einen jungen Burschen, einen Schulfreund, dessen Familie in einem Dorf auf der anderen Seite von Garango lebt. Im Gegensatz dazu konnte ihr Cousin Issa Junior, ein entzückender Bursche, der früh Vater und Mutter verlor und von Mariamas Familie aufgenommen wurde (er ist auf dem Foto auf Seite 30 zu sehen), weiter zur Schule gehen und sein Baccalauréat machen, was einer Matura entspricht. Er möchte gerne Arzt werden und beginnt nun ein Studium in der Hauptstadt. Seine Schulgebühren wurden nicht von Mariama und ihrem Mann bezahlt, sondern von ihrem Sohn Zakariya. Er arbeitete in CÔte d’Ivoire und schickte das Geld nach Hause.
Rasinatu hat aber noch etwas am Herzen. Dass sie mir so unverblümt von ihrem Groll gegen ihre Familie erzählt, hat mich schon verblüfft, doch als sie dann einen Teil ihres Ärgers auch gegen mich richtet, bin ich wirklich betroffen. „Warum hast du mir nichts aus England geschickt? Du hättest mir etwas schenken können – ein Fahrrad, ein Mobiltelefon, irgendwas!“
Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, und bin wirklich bestürzt, dass sie sich so ungerecht behandelt fühlt, dass sie mir das direkt ins Gesicht sagt, trotz der extremen Höflichkeit, die hier Tradition ist. Wie weit meine Verantwortung für Mariamas Familie reichte, war zwar nie ganz klar, aber ich betrachtete das stets als eine Angelegenheit zwischen ihr und mir. Ich hatte nicht den Eindruck, zu irgendeinem ihrer Kinder eine persönliche Beziehung zu haben, geschweige denn für sie verantwortlich zu sein.
Der letzte Tag im Dorf. Der Vorfall lässt uns in unserer verbleibenden Zeit im Dorf nicht mehr los und wirkt insbesondere nach, als Pat und ich darüber diskutieren, wie weit unsere Hilfe gehen sollte. Wir beschließen, keine Euros mit nach Hause zu nehmen, sondern Mariamas Familie Geldgeschenke zukommen zu lassen, zusätzlich zu dem Honorar, das sie vom New Internationalist erhält. Diese Geschenke überreichen wir an unserem letzten Tag im Dorf – was durchaus auch mein letzter Tag im Dorf überhaupt sein könnte (eine weitere Rückkehr in meinen 70ern erscheint mir als eher entfernte Möglichkeit).
Von Mariama verabschieden wir uns zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, denn sie hat beschlossen, uns im Bus in die Hauptstadt Ouagadougou zu begleiten, wo ich ein Treffen mit ihrem ältesten Sohn Oumarou vereinbart habe.
Oumarous Geschichte. Als ich Oumarou das letzte Mal sah, 1995, war er 17. Ich verbrachte damals einige Zeit mit ihm. Wie aus seinen regelmäßigen Klagen hervorging, ödete ihn das Dorfleben ziemlich an. Er wollte unbedingt weg. 2005 hatte er es geschafft: Er lebte in der Hauptstadt und arbeitete in einer Bäckerei.
Mittlerweile sind alle Söhne Mariamas seinem Beispiel gefolgt und haben das Dorf verlassen, um ihr Glück anderswo zu suchen – in Abidjan, aber auch in Beirut. Oumarou blieb jedoch in Ouagadougou, da er sich als ältester Sohn verpflichtet fühlte, engeren Kontakt mit seiner Familie zu pflegen.
Als Oumarou uns abholt, sitzt er am Steuer eines BMW. Er fährt mit uns in ein neues Viertel in den Außenbezirken von Ouagadougou, das sich allerdings kaum von einem klassischen Slum unterscheidet. Mitten unter den ärmlichen Behausungen sind aber auch ansehnlichere Wohnhäuser zu sehen, die den Ansprüchen der neuen Mittelschicht gerecht werden, und wie sich herausstellt, ist Oumarous Haus eines von diesen.
Erweiterte Perspektiven. Er geleitet uns ins Haus, um uns seine Familie vorzustellen – er ist nun verheiratet, mit vier Kindern –, und zu meiner Verblüffung stehe ich vor dem wohl größten Fernsehschirm, den ich jemals in einer Wohnung gesehen habe. Kurz, Oumarou hat es zu etwas gebracht – und es ist ihm gelungen, seine Lebensperspektiven und die seiner Familie zu erweitern.
Nach drei Jahren am Bau und sechs Jahren in der Bäckerei nutzte er schließlich die Gunst der Stunde und folgte seinen unternehmerischen Instinkten. Er begann, mit importierten Mopeds und Motorrädern zu handeln, meist zwölf Jahre alt oder mehr, die in der Regel von Zweit- oder DrittbesitzerInnen erworben werden. Ihr Marktwert im Westen tendiert daher gegen Null, auch wenn sie oft noch klaglos funktionieren. Sie werden nach Westafrika verschifft, wo sie mit Gewinn an die wachsende Mittelschicht verkauft werden.
Nach und nach arbeitete sich Oumarou von den Motorrädern hoch zu den Autos. Der BMW ist ein Wagen, den er gerade zu verkaufen versucht; selbst fährt er ihn nur ausnahmsweise, zu besonderen Anlässen. Sein neues, gemietetes Haus, offensichtlich ein Symbol dafür, dass er es geschafft hat, bezog er erst vor Kurzem. Seine Kinder schickt er auf eine Privatschule, um ihnen einen Karrierevorsprung zu verschaffen.
Oumarous neue Lebensumstände bringen meine Vorstellungswelt ins Wanken – doch es ist ein heilsamer Schock. Sogar dieses letzte Mal im Dorf, und trotz all der materiellen Fortschritte, deren Zeuge ich wurde, neigte ich doch noch immer dazu, alles in eine geistige Schublade namens „arm und hilfsbedürftig“ zu stecken.
Neue Einsicht. Das Treffen mit Oumarou hilft, auch anderes ins rechte Licht zu rücken. In einer bäuerlichen Gemeinschaft, die von Subsistenzlandwirtschaft lebt wie Sabtenga, war Geld stets eher etwas, das von anderswoher nach Hause geschickt wird, in der Regel von Familienangehörigen, die in der Hauptstadt oder im Ausland arbeiten, zumeist in Côte d’Ivoire. Heute ist das noch weit mehr der Fall – nur ist das Netz viel weiter gespannt, erstreckt sich bis nach Europa und Nordamerika, und jede Familie im Dorf ist erpicht darauf, von allfälligen Kontakten zu profitieren, um ihre materielle Lage zu verbessern.
Was einst ein völlig auf sich allein gestelltes Dorf war, getrennt vom Wohlstand und vom wissenschaftlichen Fortschritt der modernen Welt, ist heute zu einem Teil der globalen Gemeinschaft geworden, der auf vielfältige Weise mit der reichen Hemisphäre in Verbindung steht. Globalisierung und „Entwicklung“, in all ihren Manifestationen, hatten enorme Auswirkungen, und die Lebensqualität vor Ort hat sich durch sie zweifellos verbessert.
Ich hätte das nie erwartet, aber was als journalistisches Projekt begann, um die enorme Kluft zwischen Arm und Reich aufzuzeigen, demonstriert nun, wie grundlegend und unentwirrbar diese beiden Wirklichkeiten miteinander verwoben sind. Sabtenga mag ein typisches afrikanisches Dorf sein, vielleicht auch nicht. Doch hier leben jedenfalls Menschen, die nur zu gerne das Versprechen eingelöst haben wollen, das ihnen gegeben wurde: dass sie und ihr Land fähig sein werden, die Armut zu überwinden, wenn sie auf Handel und Austausch mit dem Rest der Welt setzen. Dass die Menschen und die Regierungen in den reichen Ländern sich nun jedoch andere Gedanken über ihre Zugehörigkeit zur „Einen Welt“ zu machen scheinen, dass sie der Migration nicht nur skeptisch, sondern feindselig gegenüberstehen und Afrika nun als Bedrohung wahrnehmen, das lässt sich ihnen wohl kaum begreiflich machen.
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